Der Guckkasten - Fernseher des Barocks

Augenlust nach Bilderwelten
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Francois Boucher (1703-1770) - Foire de Campagne. Belebte Szene im Freien mit Guckkastenvorführer

Die Faszination, Bilder in einem Kasten zu sehen – ob statisch oder bewegt – ist keineswegs eine allzu moderne Eigenschaft. Die Augenlust nach Bilderwelten ist so alt, wie das Bild selbst und auch die Präsentation mit Hilfe eines Kastens hat eine weitaus ältere Tradition als oft vermutet. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts kam im Rahmen der optischen Entdeckungen und Spielereien des späten Barocks der Guckkasten auf. Die exakten Ursprünge des Guckkastens liegen im Dunkeln. Ein erster schriftlicher Vermerk mit einer detaillierten Beschreibung zum Bau eines derartigen Kastens taucht 1663 auf. Im Prinzip handelt es sich um einen einfachen, meist aus Holz gefertigten Kasten, der ein oder mehrere, mit Linsen versehene Gucklöcher hat. Gegenüber zur Einblicksöffnung wurden die Guckkastenblätter positioniert – handkolorierte Kupferstiche unterschiedlichster Art. Durch den Abstand zwischen Einblick und Bild, verstärkt durch die Linse und der perspektivischen Zeichnung der Bilder, entstand der Eindruck von räumlicher Tiefe, ein für die damalige Zeit völlig neues Seherlebnis. Präsentiert wurden diese optischen Leckerbissen von einer eigenen Zunft, den Guckkästnern.
 

Kriegsinvalide als Guckkästner
Frontispiz aus "Berlin wie es ist und trinkt", Adolf Brennglas, 1835 

Oft rekrutierten sich jene aus Kriegsinvaliden, die zu anderer Arbeit nicht mehr fähig waren. Sie erhielten vom Staat eine Art Wanderpatent, das jedoch jederzeit widerrufbar war. Aus ihrer Doppelrolle als staatsabhängiger Almosenempfänger und Staatsgeschädigter ergab sich bei diesen Leuten eine seltsame Mischung aus aufgesetzter Loyalität und unterschwelliger Renitenz, die sich oft in den zynischen Kommentaren während der Guckkastenvorführungen widerspiegelte.

Anzutreffen war der Guckkastenmann überall dort, wo ein einigermaßen großer Publikumsverkehr zu verzeichnen war: auf Jahrmärkten, Volksfesten und ähnlich belebten Orten. Hier gab es genügend Kundschaft, die – angelockt durch die marktschreierischen Rufe – zu einem entgeltlichen Blick in die weite Welt überredet wurden.

Komm ik heute wieder her
mit die Raritäte,
leg sie an das Lock, mon cher
s'il vous plait, die tête.
Schaun Sie in das Loch hinein,
sehn sie Bilder schön und fein
in die Guckekaste.
  

Jahrmarktsdarstellung mit einem Guckkastenmann,
Illustration aus einem Kinderbuch, ca. 1860 

So oder so ähnlich könnte ein Guckkastenmann in den Gassen einer Stadt vor 150 bis 200 Jahren die „Werbetrommel“ für seine Guckkastenvorführung gerührt haben.
Gegen ein geringes Entgelt wurde der Blick auf die Bilder, auch „Raritäten“ genannt, freigegeben und – um das visuelle Erlebnis noch wirkungsvoller zu gestalten – durch ergänzende Kommentare des Guckkästners zusätzlich dramatisiert. Weitere Aufgaben wie musikalische Begleitung, Geld sammeln, Bilderwechsel oder Geräusche wurden meist von Familienangehörigen des Guckkästners übernommen.

Die Menschen jener Zeit reagierten fasziniert auf die Möglichkeit, Ansichten ferner Städte, Katastrophen, weltliche Ereignisse oder traditionelle Themen aus der antiken Mythologie oder der biblischen Geschichte durch ein Guckloch betrachten zu können. Allein schon das Eindringen eines Fremden in ihr vertrautes Umfeld war ein seltenes und aufregendes Ereignis. Schausteller und ganz besonders Guckkastenvorführer hatten zudem noch etwas Exotisches und Faszinierendes an sich, nicht selten war ihnen eine Spur Verruchtheit zu eigen. Man stelle sich die enorme Wirkung vor, wenn Leute, die sich während ihres gesamten Lebens nicht ein einziges Mal weiter als zwanzig Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt hatten, Ansichten zu sehen bekamen, von denen selbst die Namen bis dahin nur rätselhafte Worte darstellten: Rom, London, Paris, New York; China und das Osmanische Reich; der Koloss von Rhodos, der Turm zu Babel; Schlachtenfelder oder Kathedralen.
  

Prospect der Stadt Reggio in Calabrien
welche dem Faro di Messina gegen übergestaden, Wie solche 1783 den 5. Febr. durch
das erschröckliche Erdbeben, nebst allen umstehenden Vorwercken gänzlich zerstöret worden. (ca. 1790) 

Es war die besondere Mischung aus Geheimnisvollem und Intimem, welche die eigentliche Vorführung zu einem Erlebnis werden ließ. Jeder Einzelne konnte sich in diese magische Welt begeben, in dem er durch sein eigenes kleines Loch in den Kasten blickte. Das Empfinden für Größe und Weite stellte sich neu ein, da reale Maßstäbe vom Kasten abgeschirmt wurden – das vorgestellte Abbild kam dem Sehlustigen wie das wirkliche Universum in Lebensgröße vor. Für ein oder zwei Groschen konnte sich jedermann so auf seine eigene „große“ Reise begeben.
  

Der Kremlin, oder die Festung von Moscau - Le Kremlin, ou la Fortereße de Moscau, ca. 1780 

Allerdings dauerte es nicht lange, bis der Guckkasten zunehmend in Verruf geriet. Bereits in den frühen Anfängen sind voyeuristische Elemente zu finden. Eine breite Palette pikanter Stiche legt die Vermutung nahe, daß ein etwas halbseidener Guckkastenmann statt der üblichen Ansichten auch schon mal recht anstößige „Ersatzbilder“ im Programm hatte.
Als Nachrichtenorgan bzw. Informationsverbreiter nahm der Guckkasten im damaligen kulturellen Leben eine wichtige Position ein, wurden doch auch mehr oder weniger aktuelle Ereignisse auf Guckkastenblättern festgehalten und somit für das einfache Volk zugänglich gemacht.
In den wohlhabenden Kreisen etablierte sich der Guckkasten außerdem als pädagogisches Spielzeug, Hilfsmittel zur Erkundung ferner Welten und warnender Zeuge tragischer Begebenheiten.
Erst durch die Verbreitung des Zeitungswesens und im 19. Jahrhundert durch das Aufkommen anderer Medien, wie beispielsweise der Photographie, geriet der Guckkasten allmählich in Vergessenheit. Heute gehört sein elektronischer Bruder – der Fernseher – zum Standardinventar eines jeden Haushalts. Vom Prinzip hat sich nichts geändert. Aktuelle Nachrichten, Katastrophen, Reiseberichte ferner Länder oder Geschichten aus dem Alltag lassen manchen Zuschauer täglich Stunden vor diesem Kasten verharren. Die Augenlust nach Bilderwelten hat nie nachgelassen.

Literatur zum Thema:
Der Guckkasten, Einblick – Durchblick – Ausblick
Hardcover mit Schutzumschlag, vierfarbig,
120 Seiten, 97 Abbildungen, Euro 35,-
ISBN 3-9803451-2-2
Füsslin Verlag, Stuttgart
 

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